Krankheitsverständnis der klassischen Naturheilkunde

Naturheilkunde nach Kneipp

Die Bedeutung des Blutes | Kritik aus heutiger Sicht | Das Konzept der Salutogenese

 

1. Die Bedeutung des Blutes

Eine zentrale Rolle im Verständnis von Gesundheit und Krankheit spielt das Blut. Blut ist ein hochkomplexes Phänomen und steht in der Medizin schon seit Jahrtausenden im Zentrum vieler Überlegungen. Auch in der Naturheilkunde hat es eine zentrale Stellung und es ziehen sich folgende Gegenüberstellungen wie ein Leitfaden durch das Heilverfahren:

  1. Leben und Blut
  2. Gesundes Leben und gesundes Blut
  3. Krankes Leben und krankes Blut

Dahinter steht die Überzeugung, dass viele Krankheiten ihre Ursachen in Störungen des Blutes haben. Es gibt zwei grundlegende Ursachen für Krankheit:

  1. Die Zirkulation des Blutes in seinen geordneten Bahnen ist gestört
  2. Die Zusammensetzung der Bestandlteile des Blutes ist gestört

Deshalb führen die folgenden Punkte zur Krankheit:

  1. Jedes Zuviel oder Zuwenig im Tempo des Blutkreislaufes
  2. Jedes Eindringen fremdartiger Elemente in das Blut

Daraus ergibt sich als Gegenmaßnahme oder Therapie:

  1. Das ungeordnet zirkulierende Blut wieder zum richtigen und normalen Lauf zurückzuführen
  2. Die fremdartigen, die Funktion des Blutes störenden oder das gesunde Blut schädigenden Krankheitsstoffe aus dem Blut auszuscheiden.

Auf genau diese Maßnahmen zielen nun die Wasseranwendungen und die weiteren 4 Elemente der Naturheilkunde nach Kneipp. Sie sollen das Blut reinigen und die Durchblutung der Organe fördern. Dadurch wird der angegriffene Organismus stabilisiert und eine Gesundung eingeleitet.

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2. Kritik aus heutiger Sicht

Dieses Verständnis scheint heute in einigen Punkte aufgrund neuerer Erkenntnisse fragwürdig zu sein. Insbesondere die Entdeckung von Viren und Bakterien als Krankheitserreger hat die Schulmedizin gegensätzlich geprägt und den Ansatz der Humoralpathologe in der Naturheilkunde nach Kneipp für Jahre verdrängt. Und in der Tat konnte z.B. Kneipp noch nichts von Krankheitserregern wissen. Er selbst wurde 1848 zwar durch eine selbst durchgeführte Wasserkur von einer weit fortgeschrittenen Tuberkulose geheilt und hat damit erlebt, welche Kraft in den kalten Wasseranwendungen steckt. Im Jahre 1882 entdeckte jedoch Robert Koch das Tuberkulose-Bakterium und leitete die Ära der "Zellularpathologie" ein. Es dauerte dann zwar nochmals einige Jahrzehnte, bis mit dem Penicillin tatsächlich ein Medikament erhältlich war, das gezielt gegen diesen Krankheitserreger eingesetzt werden konnte. Spätestens dann jedoch schien der Streit zwischen der Humoralpathologie und der Zellularpathologie eindeutig zugunsten der letzteren entschieden. Keine Wasserkur, sondern Penicillin!

Wie an anderer Stelle erwähnt ist der heutige Ansatz der Naturheilkunde nach Kneipp durch ein "Und" geprägt. "Wasserkur und Penicillin" oder allgemeiner ausgedrückt: "Naturheilkunde und Schulmedizin". Warum ein Entweder/Oder, wenn es eine sinnvolle Ergänzung geben und sich die Effekte summieren können? Es kommt aber aktuell noch ein weiterer interessanter Aspekt dazu: Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse lassen die Bedeutung des Blutes wieder stärker in den Vordergrund treten. So hat die Entdeckung der sogenannten Pleomorphie, also der Umstand, dass sich Bakterien und Viren an das sie umgebende Milieu anpassen können, zu einem teilweisen Umdenken in der Schulmedizin geführt. Man weiß heute, dass es beim Ausbruch von Krankheit durch Krankheitserreger wesentlich auf das sogenannte Milieu ankommt, auf das der Krankheitserreger trifft, beziehungsweise in dem er sich befindet. Kurz gesagt ist es wichtig, ob das Blut gesund ist oder nicht. Damit sind wir interessanterweise wieder bei den oben genannten Grundannahmen der Naturheilkunde angelangt. Sicher kann man auch mit diesen aktuellen Erkenntnissen nicht alle Streitpunkte zwischen Naturheilkunde und Schulmedizin lösen. Aber es wird dadurch ein starker Hinweis gegeben, dass eine Annäherung nicht nur aus Opportunismus, sondern durchaus wohl begründet sein kann. Ein Umstand, der Mut für die Zukunft macht. Nicht nur die Schulmedizin hat unbestreitbar und zu Recht eine bedeutende Rolle im Gesundheitssystem. Auch die Naturheilkunde kann vieles leisten. So wurden in den letzten Jahrzehnten einige Aspekte der Naturheilkunde anhand medizinisch-naturwissenschaftlicher Studien nachgewiesen und belegt. Unbestritten sind jedoch auch die Heilerfolge, welche die Praktiker dieses Naturheilverfahrens vorweisen können. In seiner Gänze gilt die Naturheilkunde nach Kneipp zwar noch nicht als bewiesen. Aber es stellt sich die Frage, ob es wirklich überraschend ist, dass ein ganzheitliches Naturheilverfahren, welches sich sowohl mit dem Körper als auch der Seele und dem menschlichen Geist beschäftigt, mit Methoden der Naturwissenschaft nicht in seiner Gänze wissenschaftlich bewiesen werden kann? Ist dies nicht aufgrund der enormen Komplexität vielmehr sogar zu erwarten? 

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3. Die Salutogenese

Das Konzept der Salutogenese wurde von Antonovsky in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt. Es beschäftigt sich mit der Entstehung von Gesundheit. Im Gegensatz hierzu steht die Pathogenese, welche die Entstehung von Krankheit behandelt. Eine der wichtigsten Annahmen von Antonovsky lautet, dass Gesundheit nicht ein Zustand, sondern einen Prozess darstellt. Der Mensch ist nicht krank oder gesund, sondern er hat immer gesunde und kranke Anteile. Wir haben uns eine Linie vorzustellen, auf der zum Beispiel der linke Endpunkt die Gesundheit und der rechte Endpunkt die Krankheit darstellt. Der Mensch befindet sich nun, solange er lebt, nie ganz rechts oder ganz links, sondern immer irgendwo auf der Linie zwischen diesen Endpunkten. Wir sprechen also nicht von der "Galle auf Zimmer 216", sondern von "Herrn Müller", der neben seinen Gallenbeschwerden auch viele gesunde Anteile in seinem Körper vereint. Und diese anderen Anteile haben wesentlichen Einfluss auf seinen Umgang mit der Krankheit und seinen Heilungschancen. Bei dem Konzept der Salutogenese werden diese Aspekte berücksichtigt. Wobei auch hier gilt: Das Konzept der Salutogenese ersetzt nicht das Konzept der Pathogenese, sondern ergänzt dieses.

Das salutogenetische Grundverständnis liegt auch der Naturheilkunde nach Kneipp und hier insbesondere dem Element des Lebensstils zugrunde. So erkannte Sebastian Kneipp, dass er Einfluss auf den Lebensstil seiner Patienten nehmen musste, wenn er ihre Position im Gesundheit-Krankheits-Kontinuum in Richtung Gesundheit verschieben wollte. Kneipp kannte als Seelsorger den Lebensstil des gewöhnlichen Bürgers im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung. Er wandte sich vehement gegen die Stadtflucht und die damit einhergehende Glorifizierung des städtischen Lebens. Er erkannte früh die möglichen negativen Folgen der industriellen Arbeit auf die Gesundheit der Arbeiter. Dies führte dazu, dass er einen Schwerpunkt auf die Lebensführung in seiner therapeutischen Praxis legte. Sichtbar wird dies an seinem Ausspruch: "Erst als ich daran ging, Ordnung in die Seelen meiner Patienten zu bringen, hatte ich vollen Erfolg". Ordnung in die Seelen zu bringen ist bei Kneipp einerseits so zu verstehen, dass er auf Basis des christlichen Menschenbildes und der christlichen Ethik Werte vermittelte und zum Glauben an die Bibel als Wort Gottes aufrief. Auf dieser Basis wurde er dann aber auch konkret und praktisch. Er gab z.B. detaillierte Empfehlungen zur Schlafens- und Aufstehzeit, zur Gestaltung der Wohnung, zu Hobbys und zur Partnerschaft. Einiges davon erscheint heute antiquiert und muss auch tatsächlich an die heutigen Verhältnisse angepasst werden. Anderes kann aber auch heute noch als überraschend aktuell angesehen werden.

Ein Beispiel dafür ist die Zunahme der seelischen Stressoren, welche heute in die Diagnose "Burnout" führen. Es ist interessant, dass zu Kneipps Zeiten häufig die sogenannte "Neurasthenie" diagnostiziert wurde, eine Krankheit, die verblüffende Ähnlichkeiten mit der heutigen Burnout-Diagnose aufweist. Die Therapievorschläge von Dr. Baumgarten (dem Nachfolger von Kneipp) in seinem Buch "Neurasthenie" (Baumgarten, Alfred; Wörishofen, 1903), können in großen Teilen an das heutige Wissen zu Vorbeugung, Diagnose und Therapie des Burnouts angepasst werden.

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